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Akzent

Wohnen 55+ eine Etikette für gestern?

18.11.2019 / 19.00–21.00 Uhr

Bereits vor 20 Jahren wurden die ersten gemeinschaftlichen Wohnprojekte zum Thema «Wohnen 55+» lanciert. Da Alter relativ ist und sich die Hausgemeinschaft laufend weiterentwickelt, lohnt sich ein Rückblick: Was braucht es in Zukunft, um den unterschiedlichen Wohnbedürfnissen älterer Menschen gerecht zu werden? Dieser gemeinsam mit dem ETH Wohnforum organisierte Anlass ging der Frage nach, ob ein spezielles Alter auch heute noch nach speziellen Wohnformen verlangt. Zum Rückblick...


Zum Einstieg ins Thema lieferte Christine Seidler, Zürcher Gemeinderätin und Professorin für Urbanismus und Mobilität an der Berner Fachhochschule, einige interessante Inputs. Sie hielt fest, dass wir in einer Zeit der Umwälzungen – Urbanisierung, Globalisierung und Krisen «und das mit fünf Generationen gleichzeitig» – leben. Sie sehe Wohnen als Grundrecht, das meistens schon am Preis scheitere, obwohl die Stadt Zürich ihre Hausaufgaben gemacht habe. So habe der Zürcher Gemeinderat einen Plan vorgelegt, in welchen Gebieten er verdichten wolle. Und schon habe man Dichtestress.
Als Forscherin wollte sie wissen, wie die Stadt seit 1919 bis heute gewachsen sei, wo Kleinwohnungen zu welchen Preisen angeboten würden und wo denn «Lebensqualität» zunehme und warum. Eine augenfällige Konzentration gebe es dort, wo es Marktplätze gebe und dann – im weiteren Umfeld – an Kulturplätzen, bei Cafés und Restaurants.
Sie zeigte auch, wie der Bewegungsradius je nach Alter unterschiedlich gross ist. Je älter, umso kleiner. Und dies in Gebieten, in denen die Stadt Verdichtung im Sinn habe. Es werde also auch dort zu grösseren Umwälzungen kommen.

Eveline Althaus stellte kurz das Projekt solinsieme in St. Gallen vor, das seit 2002 in einem ehemaligen Stickereibetrieb entstanden ist, und begrüsste Verena Bruderer und Christine Tomaschett, Bewohnerinnen von solinsieme, auf dem Podium. Ebenfalls Platz nahmen Paul Tinner, Monika Bachmann und Manfred Saile, die in drei verschiedenen Hausgemeinschaften (die schon in AKZENT #5 Thema waren) der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich ABZ wohnen und aktiv sind. Heini Lüthy, Präsident vom Alterskollektiv und Vorstandsmitglied Zusammen_h_alt in Winterthur komplettierte das Podium.
Eveline Althaus fragte die Runde, warum sie nicht einfach wohnen, sondern Nachbarschaft und gar kleinere Wohnungen gesucht hätten. „Es haben sich im Laufe des Lebens viele Dinge angehäuft, das musste reduziert werden.“ und „Frei nach Woody Allen: Ich interessiere mich für das Alter, den Ort, an dem ich den Rest meines Lebens verbringe.“ waren zwei deutliche Statements.
Paul Tinner war schon Genossenschafter bei der ABZ, als er vom Projekt «HG Ruggächeren» der ABZ hörte. Er sei sofort interessiert gewesen, hätte aber noch seine Frau davon überzeugen müssen. Monika Bachmann habe sich zu der Zeit breit informiert und festgestellt, dass sie nicht der Typ fürs Clusterwohnen sei. Sie habe in eine kleine, aber eigene Wohnung ziehen wollen, ein Nest, in das sie nachhause kommen könne und dann wieder die Welt bereisen.

Christine Tomaschett ist vielleicht eine Trendsetterin: „Wir haben unser Einfamilienhaus verkauft – zum Erstaunen unserer Freunde – und zogen zu «fremden Leuten". Heute finde sie, dass dies lebendig und wach halte. Auch Manfred Saile erzählte, er habe zu viel Wohnraum gehabt und sei auf der Suche nach neuen Nachbarn und damit nach neuen Herausforderungen gewesen. Zu den Herausforderungen gehörte wohl auch das gemeinschaftliche Engagement. So meinte Heini Lüthi, dass sich etwa die Hälfte der rund 100 Bewohnenden beim Alterskollektiv bei den Aufgaben engagierten, Bauliches, Feste und andere Dinge organisierten. Manfred Saile fügte an, dass er sich nicht habe zurückziehen wollen. Auch sähe sich seine Hausgemeinschaft nicht als Ghetto innerhalb der ABZ, sondern engagiere sich in der Siedlung und in der Genossenschaft ganz allgemein. Es gehe schliesslich darum, durch die Begegnung mit anderen Lebensqualität zu erfahren. Beim Einrichten der Gemeinschaftsräume, bei den monatlichen Haussitzungen und bei der Klärung der Frage, wie weit Nachbarschaftshilfe gehen solle, hätten sich die 28 Menschen zuerst finden müssen.
Generall wurde festgestellt, dass die Konfliktfähigkeit mit zunehmendem Alter abnehme, wenn sie nicht kultiviert und ein gemeinsam erarbeitetes Regelwerk eingehalten werde.

Aus dem Publikum kam das Votum, dass Nachbarschaftshilfe nicht erst ab 55plus funktioniere. Andererseits könne dies eine professionelle Hilfe wie die (Alters)Pflege nicht ersetzen. Jemand ergänzte, dass Menschen, die zuvor nicht in einer Genossenschaft gewohnt hätten, zunächst auch die Philosophie zu verinnerlichen hätten, damit es funktioniere. Wer nach der Erwerbstätigkeit einfach nur eine günstige Wohnung suche, habe das System nicht verstanden.

Um kurze Schlussplädoyers gebeten, ergänzten sich die Aussagen der Podiumsteilnehmenden: Man solle in der Reduktion keinen Verzicht, sondern die Erleichterung sehen. Es sei kein übertriebenes Engagement, sondern einfach ein Geben und Nehmen. Man wünsche sich mehr Menschen, die sich für diese Lebensform engagierten und freue sich auf das normale Leben mit richtig normalen Leuten...

Moderation: Simone Gatti (Vorständin Wohnbaugenossenschaften Zürich) und Eveline Althaus (ETH Wohnforum)
Podiumsteilnehmende: Verena Bruderer und Christine Tomaschett (Solinsieme St. Gallen), Paul Tinner, Monika Bachmann und Manfred Saile (div. Hausgemeinschaften der ABZ) und Heini Lüthi (Präsident Alterskollektiv)

Die Präsentation zum Download demnächst >